Fachinfos - Judikaturauswertungen 12.04.2021

Wahlrechtsausschluss von geschäftsunfähigen Personen

Dänische Regelung verhältnismäßig: Keine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen. EGMR 2.2.2021, 25802/18 und 27338/18, Strøbye und Rosenlind gg. Dänemark (12. April 2021)

Sachverhalt

Tomas Strøbye und Martin Rosenlind sind dänische Staatsbürger, die im Jahr 1984 bzw. 2009 vom Gericht für geschäftsunfähig erklärt wurden. Strøbye und Rosenlind verloren damit das Wahlrecht zum dänischen Parlament: Gemäß Artikel 29 der dänischen Verfassung und § 1 der Parlamentswahlordnung sind geschäftsunfähige Personen ex lege vom Wahlrecht zum dänischen Parlament ausgeschlossen.

Anlässlich der Parlamentswahl im Jahr 2015 erhoben Strøbye und Rosenlind Beschwerde an das jeweils zuständige Gericht und behaupteten, dass ihnen ihr Wahlrecht unrechtmäßig entzogen worden sei: Der Wahlrechtsentzug verstoße unter anderem gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die UN-Behindertenrechtskonvention.

Sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch das oberste Gericht Dänemarks wiesen die Beschwerden allerdings ab: Die dänische Verfassung sei in dieser Frage eindeutig und lege fest, dass geschäftsunfähige Personen vom Wahlrecht zum dänischen Parlament ausgeschlossen sind.

Strøbye und Rosenlind wandten sich daher an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und behaupteten unter anderem, durch die Entscheidung des obersten Gerichts in ihrem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK verletzt worden zu sein.

Zwischen der betreffenden Parlamentswahl im Jahr 2015 und der Entscheidung des EGMR wurden die Regelungen betreffend das Wahlrecht geschäftsunfähiger Personen in Dänemark grundlegend geändert: Im April 2016 wurde geschäftsunfähigen Personen das Wahlrecht bei Wahlen zum Europäischen Parlament sowie bei Wahlen auf Gemeinde- und Regionalebene eingeräumt. Ende 2018 wurde ein „zweistufiges“ Modell der Geschäftsunfähigkeit in Dänemark eingeführt: Personen, die als bloß teilweise geschäftsunfähig gelten, dürfen seither – auch bei nationalen Parlamentswahlen – wählen.

In den Gesetzesmaterialien wurde in beiden Fällen klargestellt, dass der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung – dem demokratischen Prinzip entsprechend – so groß wie möglich sein solle. Das Wahlrecht solle im Rahmen der Verfassung so vielen Dän/inn/en wie möglich zukommen.

Strøbye und Rosenlind beantragten im Jahr 2019 aufgrund der geänderten Rechtslage eine gerichtliche Überprüfung ihrer Geschäftsunfähigkeit; die Geschäftsunfähigkeit von Strøbye wurde zur Gänze aufgehoben, jene von Rosenlind in eine Teilgeschäftsunfähigkeit umgewandelt. Im Ergebnis sind damit beide künftig auch bei nationalen Parlamentswahlen wahlberechtigt.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR wiederholte eingangs, dass das Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer effektiven Demokratie wesentlich, allerdings nicht absolut gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten der EMRK hätten einen weiten Ermessensspielraum und es sei die Aufgabe des EGMR zu gewährleisten, dass dieser Ermessensspielraum von den Mitgliedstaaten in verhältnismäßiger Weise gehandhabt werde. Dabei sei auch die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung von Maßnahmen von besonderer Bedeutung.

Im vorliegenden Fall sei der Eingriff in das Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK zweifellos auf Basis einer gesetzlichen Grundlage erfolgt. Unstrittig sei darüber hinaus, dass dieser Eingriff mit Blick auf ein legitimes Ziel erfolgte, nämlich die Gewährleistung, dass die Wahlberechtigten bei nationalen Parlamentswahlen über die zur Willensbildung ausreichenden geistigen Fähigkeiten verfügen. Zu prüfen sei daher, ob der Eingriff auch verhältnismäßig war:

Der EGMR stellte eingangs fest, dass bei der gerichtlichen Entscheidung über die Geschäftsunfähigkeit einer Person nach dänischem Recht stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist: Es sei jeweils nur die unbedingt erforderliche und am wenigsten eingreifende Maßnahme zu verhängen bzw. die konkret verhängte Maßnahme sei – für den Fall geänderter Verhältnisse – im Nachhinein zu überprüfen und gegebenenfalls einzuschränken oder aufzuheben. Der Anteil der vom Wahlrecht ausgeschlossenen, geschäftsunfähigen Personen sei mit 0,046 % der (im Wahlalter befindlichen) Bevölkerung äußerst gering. Das oberste Gericht Dänemarks habe bei seiner Entscheidung im vorliegenden Fall zudem eine gründliche Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen und dabei die bisherige Rechtsprechung des EGMR zur Thematik berücksichtigt.

Darüber hinaus merkte der EGMR an, dass es in den Mitgliedstaaten der EMRK keine gemeinsame Rechtslage betreffend den Ausschluss geschäftsunfähiger Personen vom Wahlrecht gibt: Neben Dänemark sei auch in 18 weiteren Mitgliedstaaten (Österreich ausgeschlossen) ein Verlust des Wahlrechts infolge einer Geschäftsunfähigkeit vorgesehen.

Auch im Rahmen der parlamentarischen Behandlung der betreffenden gesetzlichen Grundlagen sei eine eingehende Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt. Der dänische Gesetzgeber hat sich dem EGMR zufolge laufend bemüht, so viele Dän/inn/en wie möglich für wahlberechtigt zu erklären und zugleich die Rechte der – kleinen – Gruppe geschäftsunfähiger Personen ausreichend zu wahren. Dies zeige sich auch in der Gesetzesänderung des Jahres 2016, in deren Folge ein größerer Teil ehemals vom Wahlrecht ausgeschlossener Personen das Wahlrecht erlangte. Im Ergebnis sei demnach in den vorliegenden Fällen keine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK erfolgt.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).