Parlamentskorrespondenz Nr. 885 vom 21.11.2003

NEUES BUCH ÜBER DIE IDENTITÄT ÖSTERREICHS IM PARLAMENT VORGESTELLT

Präsident Khol für Volksabstimmung über eine neue Bundesverfassung

Wien (PK) - Nationalratspräsident Andreas Khol lud heute Nachmittag gemeinsam mit dem Wiener Braumüller Verlag zur Präsentation des Buches "Die österreichische Identität im Wandel" von Susanne Frölich-Steffen in das Parlament ein. In seinen Begrüßungsworten gratulierte der Nationalratspräsident der Autorin zu ihrem bemerkenswerten Buch und dankte dem Braumüller-Verlag für die Fortsetzung seiner jahrzehntelangen Tradition, wichtige Bücher über Österreich zu produzieren.

Auf den Inhalt des Werkes eingehend sprach der Nationalratspräsident das historische Auf und Ab und die in der Zweiten Republik immer größer werdende Zustimmung der Österreicher zu ihrem Staat an, den noch in den zwanziger Jahren "niemand wollte", wie es in einem berühmten Buchtitel hieß. Weder 1920 noch 1945 habe man es gewagt, eine Volksabstimmung über die österreichische Bundesverfassung abzuhalten, weil es entweder zu wenige Republikaner oder zu wenige Demokraten gegeben habe. Präsident Khol stellte dann den Bezug zum Österreich-Konvent her, der derzeit um eine neue österreichische Bundesverfassung ringt, und äußerte seine Überzeugung, dass die Zustimmung der Bevölkerung zu Österreich jetzt so groß geworden sei, dass man dieses Wagnis eingehen und eine neue Bundesverfassung einem Referendum unterziehen sollte.

DIE AUTORIN ZUM BUCH: "EINE POLITIKWISSENSCHAFTLICHE PSYCHOANALYSE"

Nach einleitenden Worten von Konstanze Weber, der Geschäftsführerin des Braumüller Verlags, kamen zunächst der Herausgeber Anton Pelinka und dann die Autorin Susanne Frölich-Steffen selbst zum Wort. Pelinka lobte die Autorin, die selbst keine Österreicherin ist, aber ihre Kindheit in der Nähe von Wien verbracht hat, für die überzeugende Methode, das Werden der österreichischen Nation nach 1945 und die weiter im Gang befindliche Nationswerdung der Österreicher zugleich historisch und sozialwissenschaftlich darzustellen. Frölich-Steffen analysiere die wesentlichen Faktoren der Veränderung, wobei der Politologe auf den Bedeutungswandel der Neutralität und die Änderungen im österreichischen Nationalbewusstsein durch den EU-Beitritt hinwies. War die "österreichische Nation" noch vor nicht allzu langer Zeit ein Kampfbegriff, sei er jetzt, nach einer Etappe der Entpolarisierung selbstverständlich geworden. "Die Österreicher wollen heute Österreich", das sei klar, so Pelinka, zu fragen sei, wie die Mitgliedschaft Österreichs bei der Europäischen Union die Entwicklung der österreichischen Identität in der Zukunft bestimmen wird.

Susanne Frölich-Steffen berichtete von ihrer Motivation, ein Buch über die österreichische Identität zu schreiben, nachdem sie  festgestellt habe, dass die in den siebziger und achtziger Jahren noch intensive Diskussion des Themas aufgehört habe und eine Lücke entstanden sei - diese Lücke wollte sie mit ihrer Untersuchung schließen. Frölich-Steffen nannte ihr Buch pointiert eine "politikwissenschaftliche Psychoanalyse" über die Entwicklung der noch jungen österreichischen Nation und machte das Publikum auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam, dass seit den achtziger Jahren kaum ein Land in Europa über eine so hohe Akzeptanz in der Bevölkerung verfüge wie Österreich. Zugleich handle ihr Buch von den Veränderungen, die das österreichische Nationalbewusstsein seit der "Waldheim-Affäre", dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem EU-Beitritt erfahre, wobei sie den Wandel im Neutralitätsverständnis, die Abkehr vom "Opfermythos" und die Entwicklung eines neuen nationalen Gedächtnisses - "Österreicher sind im Dritten Reich Opfer und Täter gewesen" - und die neue Westeuropa-Orientierung nannte, die die Mittlerrolle zwischen Ost und West sowie zwischen Nord und Süd abgelöst habe, die Österreich in der Zeit der aktiven Neutralitätspolitik eingenommen habe.

In der lebhaften Diskussion mit dem Publikum sprach die Autorin die Vermutung aus, dass der Österreich-Konvent ein weiterer Anlass zur Entwicklung einer neuen österreichischen Identität sein könnte und meinte zum Gegenstand ihrer Untersuchung, die Entwicklung des österreichischen Nationalbewusstseins stelle ein sehr schönes Beispiel dafür dar, wie sich nationale Identitäten verändern. Und Anton Pelinka merkte an, dass sich nach der Phase der österreichischen Nationsbildung, in der regionale Identitäten oft noch im Gegensatz zur nationalen Identität gestanden seien, heute klar sei, dass man mehrere Identitäten zugleich besitzen könne: ein Landesbewusstsein, eine nationale Identität und ein europäisches Bewusstsein.

DIE LANGEN TRADITIONEN EINER SEHR JUNGEN NATION

Susanne Frölich Steffen greift in ihrem Buch zunächst weit in die Geschichte zurück und zeigt, dass der Begriff "Österreich" eine lange, weit ins Mittelalter zurückreichende Geschichte hat: 996 stand er in einer Urkunde Kaiser Ottos III. für das Gebiet um Neuhofen im westlichen Niederösterreich, im 12. Jhdt. bezeichnete er die Mark und dann das Herzogtum der Babenberger und später den vielsprachigen Länderkomplex der Habsburger (Haus Österreich, Domus Austriae, Casa d'Austria), der 1804 unter Franz I. zum "Kaisertum Österreich" avancierte. Obwohl sich erste Ansätze eines Österreichbewusstseins schon in der Barockzeit beobachten lassen und in der Kultur des Biedermeier sowie im Werk Franz Grillparzers eine österreichische Identität zum Ausdruck kamen, war die Idee eines modernen österreichischen Nationalbewusstseins vorerst nur bei wenigen Intellektuellen lebendig, für die Susanne Frölich-Steffen Kronprinz Rudolf, Joseph Roth und Robert Musil als Beispiele nennt. Eine der Hauptursachen für die späte Nationsbildung der Österreicher war für die Autorin der in allen politischen Lagern weit verbreitete Deutschnationalismus. Daran änderte auch das Ende des Habsburgerreiches wenig. Die Gründerväter der Republik gaben dem neuen Staat zunächst den Namen "Deutschösterreich" und akzeptierten die Staatsbezeichnung "Republik Österreich" nur auf Druck der Siegermächte. Die Orientierung an Deutschland begann in der politischen Elite erst nach der Machtergreifung Hitlers zurückzugehen, nahm ab 1938 aber immer rascher auch in der Bevölkerung ab.

Im Jahr 1945, nach den bösen Erfahrungen mit dem "Anschluss" prägte ein antifaschistischer und antideutscher Konsens, der viel zitierte "Geist der Lagerstraße" die staatstragenden Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ. Die Regierung, allen voran ÖVP-Unterrichtsminister Felix Hurdes, förderte die nationale Identität mit dem Ziel, die Bevölkerung zu "guten Österreichern" zu erziehen. Die entscheidende Phase der österreichischen Identitätsbildung habe dann, so Frölich-Steffen, mit dem "annus mirabilis" 1955, der Unterzeichnung des Staatsvertrages und der Neutralitätserklärung begonnen. Der in der Raab-Kamitz-Ära eingeleitete Wirtschaftsaufschwung, die Erfolge der Sozialpartnerschaft, das - im Gegensatz zur Ersten Republik - konsensuale Politikverständnis der Parteien und nicht zuletzt die von Bruno Kreisky betriebene aktive Neutralitätspolitik, die dem kleinen Land Weltgeltung brachte, begünstigten die nun rasche Ausbildung einer stabilen österreichischen Identität. Am Anfang war der nationale Konsens der großen Parteien staatsnational bestimmt, ausgerichtet auf Verfassung und Institutionen der Republik sowie auf Staatsvertrag und Neutralität. Bald schon prägte das Österreichbewusstsein aber auch der Stolz auf das große kulturelle Erbe, das in der Bundeshymne ("Heimat bist du großer Söhne") angesprochen wird. Auch die Schönheit der Landschaft, die alljährlich von einem touristischen Millionenpublikum bestätigt wird, und nicht zuletzt auch die Erfolge österreichischer Sportler, von Karl Schranz und Annemarie Moser-Pröll bis zu Niki Lauda und Hans Krankl, steigerten das Selbstbewusstsein der Österreicher deutlich. Ein prägnantes und in Österreich oft zitiertes Bild für das positive Selbstgefühl der jungen Nation fand Papst Paul VI., der im Jahr 1971 mit Bezug auf den sozialen Frieden und den Wohlstand Österreichs von einer "Insel der Seligen" sprach.

AKTUELLE WANDLUNGEN DER ÖSTEREICHISCHEN IDENTITÄT

Die erste der Wandlungen im österreichischen Identitätsbewusstsein, mit denen sich die Politologin im Hauptteil ihres Buches beschäftigt, nahm ihren Ausgang von der "Waldheim-Affäre" des Jahres 1986 und betraf das Verhältnis der Österreicher zur Geschichte ihres Landes. Bis 1986 galt die "Opferthese" uneingeschränkt: Österreich sei 1938 von Deutschland okkupiert worden, habe bis 1945 nicht mehr existiert und trage daher keine Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und die Gräuel des Dritten Reiches. Die am Anfang sehr emotionell und kontrovers geführte Debatte habe ab 1988 - aus Anlass des 50 Jahr-Gedenkens an den Anschluss - zu einer neuen Bewertung des österreichischen Geschichte, in weiterer Folge zur Aufgabe der "Opferthese" und in den neunziger Jahren zu einem neuen, bald wieder von einer großen Mehrheit der Bevölkerung getragenen nationalen Geschichtsbild geführt, das die Autorin auf folgenden Nenner bringt: Österreicher sind Täter und Opfer gewesen.

Der zweite Anstoß zur Veränderung des österreichischen Nationalbewusstseins kam am Ende der achtziger Jahre durch das Ende des Ost-West-Konflikts, der das außenpolitische Selbstverständnis Österreichs in Frage gestellt habe. Die Autorin erinnert daran, wie viel die aktive Neutralitätspolitik zum außen- und weltpolitischen Ansehen des Landes und damit auch zum neuen Selbstbewusstsein der Österreicher beigetragen hat, und macht darauf aufmerksam, dass die "Entzauberung" der Neutralität nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Österreicher gezwungen habe, ihr Neutralitätsverständnis neu zu definieren. Frölich-Steffen beobachtet seither ein neuartiges und pragmatischeres Neutralitätsverständnis, dem das Paradigma der europäischen Solidarität zur Seite tritt.

Drittens habe Österreich durch seine EU-Mitgliedschaft ein neues außenpolitisches Leitbild entwickelt. Hatten noch in den achtziger Jahren Mitteleuropa und die Nachbarschaftsbeziehungen mit den damaligen Warschauer-Pakt-Staaten einen Schwerpunkt in der Außenpolitik der Republik gebildet, sah sich Österreich nun deutlich weniger als "Brücke zwischen Ost und West", sondern zunehmend als Teil des westlichen EU-Europas.

Die Mitgliedschaft Österreichs bei der Europäischen Union wurde nach 1995 zu einem wesentlichen Teil des neuen nationalen Bewusstseins. Regierung und Wirtschaftsverbände hatten im Zuge der Beitrittskampagne große Anstrengungen unternommen, um eine Europa-Identität in Österreich zu verankern. Dabei erinnert die Autorin daran, dass sich die staatstragenden Parteien auch nach 1945 gezielt um eine Stärkung des Österreichbewusstseins bemüht hatten. Sei das Europa-Bewusstsein vor 1989 eher unterdurchschnittlich entwickelt gewesen, habe mit den Beitrittsbemühungen geradezu eine "EU-Phorie" eingesetzt. Die Österreicher begannen ihr Land als Zentrum der europäischen Integration zu verstehen und das neue Image eines "European Players" in und außerhalb Österreichs zu vertreten.

Dieses neue Bewusstsein ist, so Frölich-Steffen, aber nicht Ersatz, sondern Ergänzung der nationalen Identität, die sich nach dem Verlust der besonderen außenpolitischen Rolle, die Österreich aufgrund der aktiven Neutralitätspolitik spielen konnte, mehr denn je auf die kulturellen und sportlichen Errungenschaften des Landes und auf seine landschaftlichen Schönheiten stützt.

"Ob die Entwicklung der europäischen Identität in Österreich ebenso erfolgreich sein wird, wie es die des Nationalbewusstseins zwischen 1945 und 1986 war, wird nicht nur vom Willen und Engagement der Eliten abhängen, sondern auch von der wirtschaftlichen und politischen Leistungskraft der EU. Denn wichtige Faktoren zur Stabilisierung der österreichischen Nachkriegsidentität waren das Wirtschaftswunder und die außenpolitischen Erfolge der Nation", schließt Susanne Frölich-Steffen.

"Die österreichische Identität im Wandel" von Susanne Frölich-Steffen ist im Wiener Verlag Braumüller als Band 15 der von Anton Pelinka herausgegebenen "Studien zur politischen Wirklichkeit" erschienen. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin. Dr. Susanne Frölich-Steffen arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften an der Ludwig-Maximilian-Universität München. (Schluss)