News 15.09.2024, 09:23

Demokratie – was ist das eigentlich?

#MehralseinKreuzerl: Die Experten Tamara Ehs und Wolfgang Merkel über die Möglichkeit des Volkes, sich selbst zu regieren

Österreich ist eine parlamentarische Demokratie. Das heißt laut Webportal des österreichischen Parlaments: "Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihre Meinung in gegenseitigem Respekt zu äußern und ihre Anliegen zu vertreten. Im Parlament geschieht das durch die verschiedenen Parteien und die einzelnen Mandatar:innen."

Der deutsche Demokratieforscher Wolfgang Merkel definiert die Demokratie im Interview mit der Parlamentskorrespondenz so: "Demokratie ist eine imperfekte, aber die bisher bestmögliche Form des Volkes, sich selbst zu regieren." In einer modernen, komplexen Flächendemokratie bedürfe es einer Repräsentation im Parlament und in der Regierung, so Merkel. Das Parlament sei ein unmittelbarerer demokratischer Ort als Regierungen, es sei das zentrale Element der repräsentativen Demokratie. "Wir sind nicht mehr in der attischen Demokratie, wo einige hundert Männer am Marktplatz direktdemokratisch Politik machen. Im modernen Staat erfolgt die Willensbildung über Parteien, die in Parlamenten organisiert sind", führt Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs aus. Der Kern der Demokratie sei zwar das gewählte Parlament, sie brauche aber viel mehr: "Freie Medien und eine pluralistische Berichterstattung, um sich eine Meinung bilden zu können. Eine Zivilgesellschaft, die das Parlament und Regierungsmitglieder kontrollieren und korrigierend eingreifen kann. Eine Zivilgesellschaft, die sich versammeln oder Bürgerinitiativen einbringen kann. Eine starke Justiz und einen starken Rechtsstaat", zählt sie auf.

Mit Wahlpflicht Beteiligung erhöhen

Der Ruf nach mehr Elementen direkter Demokratie wird speziell vor Wahlen immer wieder laut. Dabei gehe die Wahlbeteiligung in den letzten Jahrzehnten vor allem bei Regional- und Kommunalwahlen zurück, so Ehs. Weil das nicht nur ein österreichisches Phänomen ist, gebe es immer mehr Politikwissenschaftler:innen, die sich für eine Wahlpflicht aussprechen, betont sie. Angesichts der sozialen Schieflage der Beteiligung kann auch Ehs dieser Idee etwas abgewinnen.

Eine Möglichkeit, um mehr Bürger:innen zur Stimmabgabe zu bewegen, wird auch in der Digitalisierung von Wahlen gesehen. Diese Hoffnung beziehe sich vor allem auf junge Menschen, so Ehs. Wahlen nur noch online abzuhalten, halten weder sie noch Merkel für eine gute Idee. Auch verfassungsrechtlich sei das nicht möglich, erklärt Ehs, weil Wahlen alle Wahlberechtigten erreichen müssten. Doch alles, was den Wahlvorgang erleichtere oder niederschwelliger mache, sei zu begrüßen, von den baltischen Staaten könne man hier einiges lernen, sagen die beiden Experten. Durch die Digitalisierung sei in Österreich generell die Partizipationsmöglichkeit am Gesetzgebungsprozess erhöht worden. Ehs nennt etwa die Möglichkeit, Volksbegehren digital zu unterzeichnen und das erweiterte Begutachtungsverfahren, wodurch alle Bürger:innen Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben abgeben und einsehen könnten.

Demokratien weltweit rückläufig

Für Wolfgang Merkel hat das Modell Demokratie Mängel und Fehler, er zitiert Winston Churchill: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.” Indien wird oft als die größte Demokratie gehandelt. Für Merkel ist sie allerdings eine "Art von defekter Demokratie mit großen Mängeln, die sich gegenwärtig hin zu einem autoritären Regime entwickelt". Indien sei eine "schlechtere Demokratie" als Ungarn. Weil Indien so weit weg sei, würde man das manchmal vergessen. Wenn man nun die defekte Demokratie Indiens beiseitelässt, wäre die größte Demokratie Amerika. "Auch das ist kein Vorbild mehr", urteilt der Demokratieforscher. Schon das amerikanische Wahlsystem sei ein Desaster. Es sei überholt und für Manipulation anfällig.

Generell konstatiert er seit 2008 einen "Rückgang der demokratischen Qualität politischer Herrschaft auf der ganzen Welt". Merkel geht davon aus, dass die Mehrheit politischer Regime eine Hybridform haben, in Lateinamerika gebe es dafür den Begriff "Democradura". Demokratie sei ein relativ umstrittener Begriff – die Regierungen der meisten Staaten würden eher in Grauzonen operieren als im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie. Merkel spricht von "Elektoralen Demokratien", wenn er von "relativ akzeptablen" aber minimalistischen Demokratieformen spricht und Zahlen nennt: 120 seien es im Jahr 2000 gewesen, jetzt nur noch 100. Die Zahl der Regime, die keine Demokratien seien, liege ebenfalls bei 100. Merkel betont: "Wenn man die Zahl der Menschen heranzieht, die in rechtsstaatlichen Demokratien lebt, dann ist das deutlich weniger als jene in Diktaturen und hybriden Regimen."