Steßl: EU-Wachstumspolitik braucht soziale Dimension
Verfassungsausschuss: Staatssekretärin warnt vor Vertrauensverlust in EU bei unsozialen Reformschritten
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Wien (PK) – Wenn die Europäische Union bei ihren Maßnahmen für mehr Wirtschaftswachstum die dramatischen sozialen Folgen der Wirtschaftskrise in vielen Mitgliedsländern weiter nicht hinlänglich beachte, verliere sie an Glaubwürdigkeit. Notwendig sei daher ein verbessertes Monitoring der gesellschaftspolitischen Auswirkung von Reformen, unterstrich heute Staatssekretärin Sonja Steßl im Verfassungsausschuss des Nationalrats, als die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion debattiert wurde. Bedenken einiger Abgeordneten, eine Vertiefung der wirtschafts- und fiskalpolitischen Zusammenarbeit könnte schließlich zu einem Finanzminister für die gesamte Eurozone führen, entkräftete Steßl. Ziel der stärkeren Koordinierung im Binnenmarkt sei die Steigerung von Wachstum und Beschäftigung, wobei der Vertiefungsprozess immer demokratisch legitimiert sein müsse.
Grundlage der Diskussion bildete der aktuelle EU-Vorhabensbericht, den das Kanzleramt dem Parlament vorgelegt hat und den der Ausschuss zur weiteren Behandlung einstimmig vertagte. Von den Themen darin griffen die MandatarInnen nicht nur die EU-Wachstumspolitik, sondern auch das geplante Handelsabkommen TTIP mit den USA, die Fortschritte im digitalen Binnenmarkt sowie die Flüchtlingspolitik der Union heraus.
Insgesamt hat die EU-Kommission dem Bericht zufolge zehn Prioritäten für das Jahr 2015 festgelegt. Neben neuen Impulsen für Arbeitsplätze, Wachstum und Investitionen und einer engeren Koordination der Wirtschaftspolitik werden unter anderem auch ein vertiefter, fairerer Binnenmarkt, das Freihandelsabkommen TTIP, eine zukunftsorientierten Klimaschutz- und Energiepolitik, die Ausweitung der Digitalisierung sowie ein stärkerer Fokus auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit genannt. Eine neue Migrationspolitik steht ebenfalls auf der Kommissionsagenda.
Wachstum und Beschäftigung sozial verträglich vorantreiben
Angesichts der weiterhin trüben Wirtschaftsprognosen für die Europäische Union reichten eine wirtschaftsfreundliche Konsolidierung der Staatshaushalte sowie Strukturreformen allein nicht aus, betonte Steßl. Aus österreichischer Sicht trügen besonders vermehrte Investitionen zu Wachstum und Beschäftigung bei. Sie begrüßte zwar das von der Europäischen Kommission angestoßene Investitionspaket von 315 Mrd. € , urgierte aber vermehrte Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen Krise in vielen EU-Mitgliedsstaaten, um gesellschaftspolitisch destabilisierende Folgen von Arbeitslosigkeit und Verarmung zu vermeiden. Zu hoffen sei, dass wie angekündigt sowohl Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als auch die kommende Ratspräsidentschaft Luxemburg der sozialen Dimension in der Krisenbewältigung eine bedeutendere Rolle einräumen. Für Österreich nannte die Staatssekretärin die geplante Steuerreform als wichtigen Impuls zur Kaufkraftstärkung, was wiederum Investitionen anrege. Zudem riet sie, die EU-Mitgliedsstaaten sollten ihre fiskalpolitischen Spielräume, soweit vorhanden, besser nutzen, da im gemeinsamen Wirtschaftsraum vom Wachstum einzelner Mitgliedsstaaten auch die anderen profitierten.
SPÖ-Abgeordneter Josef Cap mahnte im Einklang mit Steßl die soziale Verantwortung der EU bei den Arbeiten zum vertieften Binnenmarkt ein und warnte davor, bei einer engeren Kooperation der Euro-Länder den demokratischen Pfad auf Kosten der nationalen Budgetsouveränität zu verlassen. Ähnlich wie Cap stieß sich auch Reinhard Eugen Bösch (F) an einer völligen Zentralisierung der Wirtschafts- und Währungsunion inklusive eines europäischen Finanzministers, zumal dies zu einer Art Finanzausgleich in der EU führen könnte.
Besondere Bedeutung bei der Erreichung der EU-Wachstumsziele komme der Strategie "Europa 2020" und dem so genannten "Europäischen Semester" zu, beschrieb Staatssekretärin Steßl die EU-Programme für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum bzw. zur besseren Abstimmung der nationalen Haushalte. Sinnvoll wäre es in ihren Augen, die Wachstumsstrategie mit der wirtschaftlichen Entwicklungssteuerung enger zu "verzahnen", da die Krisenbewältigung von beiden Bereichen abhänge.
Im Rahmen des EU-Investitionsprogramms, über dessen Finanzierung laut Steßl das Europäische Parlament im Juni abstimmen wird, habe Österreich bereits zahlreiche Förderprojekte eingereicht, die vor allem öffentliche bzw. privat-öffentliche Initiativen seien. Sie nannte unter anderem den Ostsee-Adria-Schienen-Korridor mit Beteiligung der ÖBB sowie Ausbauoffensiven bei Forschungsinfrastruktur und bei nachhaltiger Gebäudesanierung. EU-Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den ÖVP-Regionalpolitiksprecher Nikolaus Berlakovich thematisierte, flössen ebenfalls in mehrere Programme, wobei Kooperationen mit Partnerländern aus dem Donau- und aus dem Alpenraum in der neuen Kohäsionspolitik der EU ermöglicht würden. Gemeinsam mit den Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds betrage der Förderumfang hier insgesamt 1,2 Mrd.€.
TTIP muss demokratischen Standards entsprechen
Als eine der wirtschaftspolitischen Prioritäten der EU-Kommission im aktuellen Jahr brachte Grünen-Abgeordneter Albert Steinhauser das anvisierte Transatlantische Handelsabkommen TTIP zur Sprache. Alarmiert vermerkte er, Überlegungen der Europäischen Kommission zufolge sollte sich ein eigenes Beratungsgremium mit Rechtsakten zu TTIP auseinandersetzen, und zwar noch vor der Befassung des Europäischen Parlaments mit den Legislativvorschlägen. Ein solcher Vorgang käme einer "Entdemokratisierung" der Verfahren gleich, meinte er ebenso wie Josef Cap (S), der solche Beratungseinrichtungen höchstens für transparentes Lobbying verwendet wissen wollte. Steinhausers Vorwurf, in puncto Schiedsgerichte zu den Investitionsschutzklauseln für Konzerne gebe es von Österreich keine klare Position, hielt Staatssekretärin Steßl entgegen, Bundeskanzler Werner Faymann habe im Europäischen Rat ein klares Bekenntnis zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit abgelegt.
Zum Stichwort "Rechtsstaatlichkeit" warf Nikolaus Scherak von den NEOS das Stocken des EU-Beitrittsverfahrens zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf. Ungeachtet der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs, der im Vertragsentwurf dazu grundlegende Unionsrechte verletzt sieht, stieß sich Scherak vor allem an der vagen Positionierung Österreichs in dieser Frage; das Bekenntnis zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit reiche hier nicht aus, sagte er bezugnehmend auf den Kanzleramtsbericht.
Bei der Ablehnung von Schiedsgerichten zur Streitbeilegung zwischen Staaten und Unternehmen im Rahmen von TTIP werde es keine Kompromisse geben, auch wenn die Verhandlungen zum Übereinkommen tatsächlich bis Ende 2015 abgeschlossen sein sollten, so Steßl, gleiches gelte auch für das CETA-Abkommen mit Kanada. Das von Steinhauser und Cap angesprochene regulatorische Kontrollgremium dürfe dabei in keiner Weise den Entscheidungsspielraum der demokratisch legitimierten Institutionen einschränken.
Digitaler Binnenmarkt soll neue Wachstumschancen eröffnen
Eine echte Chance für die Wirtschaft stellt für Staatssekretärin Steßl die digitale Agenda der EU dar. Hindernisse beim Datentransfer würden dadurch für Unternehmen wie für Privatpersonen abgebaut, wobei Cyber-Sicherheit, Datenschutz und VerbraucherInnenrechte, und ein umfassender Internetzugang Priorität hätten. Um den digitalen Binnenmarkt voranzutreiben, hat die EU-Kommission in ihrem Arbeitsprogramm 2015 ein ambitioniertes Paket angekündigt, geht aus dem EU-Vorhabensbericht der Regierung hervor. Unter anderem sollen neue legislative Schritte gesetzt, der Regulierungsrahmen für den Telekommunikationssektor ergänzt, die EU-Gesetzgebung zum Urheberrecht modernisiert und die Cyber-Sicherheit gestärkt werden. Einzelne Initiativen werden schon länger verfolgt, etwa was die verbesserte Interoperabilität der EDV-Systeme der öffentlichen Verwaltungen und den erleichterten grenzüberschreitenden Zugang von BürgerInnen und Unternehmen zu IKT-gestützten öffentlichen Dienstleistungen anlangt. Hinsichtlich des EU-Aktionsplans zum E-Government sagte die Staatssekretärin, Österreich liege hier im Spitzenfeld der Umsetzung verglichen mit den anderen Mitgliedsstaaten.
Abgeordnetem Cap (S) gegenüber versicherte Steßl, der geplante digitale Binnenmarkt in der Europäischen Union ziele nicht auf eine reine Liberalisierung ab, sondern habe vorrangig eine verbesserte europäische Koordinierung der Internet- und Kommunikationsbranche zum Ziel. Die Pläne der Europäischen Kommission beinhalten daher auch eine gemeinschaftliche Strategie für mehr Cyber-Security, unter anderem mit erweiterten Meldepflichten für Netzwerkbetreiber, zumal eine Zunahme der Cyber-Kriminalität zu beobachten sei, gab Steßl Abgeordnetem Otto Pendl (S) recht. Sie skizzierte überdies den derzeit im Rat behandelten Richtlinienentwurf der Kommission zur Stärkung der Cyber-Sicherheit, mit dem öffentliche und private Betreiber wesentlicher Dienste – etwa in den Bereichen Energie, Verkehr, Bankwesen, Finanzmarkt, Wasserversorgung, Gesundheit und Internet – dazu angehalten werden sollen, angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und signifikante Störfälle zu melden.
Pendl sprach sich generell für eine bessere Koordinierung der Sicherheitsmaßnahmen im Online-Bereich aus, wobei ihm als effizienteste Lösung die Zusammenlegung der nationalen Regulierungskompetenzen vorschwebt.
Flüchtlingsfrage braucht europäische Antwort
Überschattet von den jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer kam auch die Migrationspolitik Europas im Verfassungsausschuss zur Sprache. Seitens der SPÖ unterstrichen Josef Cap und Otto Pendl, wirtschaftliche und außenpolitische Lösungen seien zur Behebung von Flüchtlingskrisen weit eher gefragt, als sicherheitspolitische Maßnahmen. Nicht nur kriegerische Auseinandersetzung, sondern auch extreme Armut trieben nämlich viele Flüchtlinge aus ihren Heimatländern, hielt Cap fest. Folglich gelte es seitens Europas und auch der USA, vor Ort für Stabilität zu sorgen. Da Migration ein eindeutig europäisches Thema sei, bestätigte Steßl, müsse die Politik auf EU-Ebene aktiv werden. Konkret sprach sie den kommenden EU-Migrationsgipfel in Malta an, bei dem gemeinsam mit afrikanischen Partnerländern die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik beraten werde. Außerdem sei neben erhöhten Beiträgen zur Entwicklungszusammenarbeit eine Quotenregelung für eine gerechte Verteilung Asylsuchender auf die EU-Länder nötig. (Fortsetzung Verfassungsausschuss) rei