Parlamentskorrespondenz Nr. 798 vom 08.11.2004

FESTVERANSTALTUNG ZUM 75. GEBURTSTAG VON LEOPOLD GRATZ IM PARLAMENT

Wien (PK) - Am 4. November feierte der ehemalige Präsident des Nationalrates und Bürgermeister von Wien, Mag. Leopold GRATZ, seinen 75. Geburtstag. Das Parlament würdigte heute offiziell den Jubilar, der den parlamentarischen Betrieb als Klubmitarbeiter "von der Pike auf" kennen gelernt hat. Die verschiedenen hohen politischen Funktionen, die Gratz während seiner politischen Laufbahn bekleidete  - Bundesrat, Abgeordneter zum Nationalrat, Klubobmann, Nationalratspräsident einerseits und Minister sowie Bürgermeister andererseits - erlaubten es ihm, tiefe Einblicke in das  demokratische System Österreichs zu gewinnen, und zwar aus sämtlichen Perspektiven: aus der Sicht der Legislative und jener der Exekutive, aus der Sicht des Bundes und jener der Länder.

NATIONALRATSPRÄSIDENT KHOL: GRATZ IST EIN GROSSER DIENER DES STAATES

"Die Geschichte der Zweiten Republik ist fast vollständig vertreten", betonte Nationalratspräsident Andreas Khol in seiner Begrüßungsansprache angesichts der zahlreichen Gäste aus allen politischen Lagern und fügte hinzu, man hätte, wäre Plenarsitzung, auch das nötige "Verfassungsquorum". Leopold Gratz habe als Nationalratspräsident das Haus mit Umsicht, Witz und Charme geführt und habe prägenden Eindruck hinterlassen, sagte Khol. Kaum eine Persönlichkeit habe in einer Person eine derartige Vielzahl von Funktionen ausgefüllt und in diesem Sinne könne man von Leopold Gratz behaupten, er ist ein "grand commis d'état". "Herr Präsident, Sie sind ein großer Diener des Staates", so Khol.

Die Wertschätzung, die dem politischen Wirken von Leopold Gratz entgegengebracht wird, war auch den Festreden des Bundespräsidenten Heinz Fischer, der Zweiten Nationalratspräsidentin Barbara Prammer und des SPÖ-Vorsitzenden Alfred Gusenbauer zu entnehmen.

Gekommen sind neben zahlreichen aktiven und ehemaligen Mitgliedern des Nationalrates und Bundesrates unter anderem Altbundespräsident Kurt Waldheim, Bundeskanzler a.D. Franz Vranitzky, die Präsidentin des Bundesrates Anna Elisabeth Haselbach, der Vizepräsident des Bundesrates Georg Pehm, der frühere Präsident des Bundesrates Herbert Schambeck, der Zweite Präsident des Nationalrates a.D. Robert Lichal, die Dritte Präsidentin des Nationalrates a.D. Heide Schmidt, der Dritte Präsident des Nationalrates a.D. Willi Brauneder, der ehemalige Vizekanzler Hannes Androsch, die ehemaligen Bundesminister Ferdinand Lacina, Rudolf Edlinger, Franz Hums, Peter Jankowitsch, Karl Blecha, Harald Ofner und Helmut Krünes, Staatssekretärin a.D. Brigitte Ederer, die Klubobleute Wilhelm Molterer, Josef Cap und Alexander van der Bellen, die ehemaligen Klubobleute Freda Meissner-Blau, Friedrich König und Friedrich Peter sowie die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes Brigitte Bierlein.

Für den beschwingten musikalischen Rahmen sorgte das "Nexus-Quartett" mit "Wiener Kinder" von Josef Strauß und dem Marsch "Kunst und Natur" von Johann Schrammel. 

GUSENBAUER UNTERSTREICHT CHARME UND WITZ VON LEOPOLD GRATZ

In seiner Festrede erinnerte SPÖ-Parteivorsitzender Alfred Gusenbauer an die großen Unterrichtsreformen, die Gratz als Unterrichtsminister vorbereitet hatte, an die soziale Modernisierung der Stadt Wien, vor allem im Gesundheitsbereich, sowie an dessen prägende Tätigkeit als Außenminister und Parlamentspräsident. Besonders ausgezeichnet habe Gratz aber die Tatsache, dass er es jedem unerhört schwer mache, auf ihn böse zu sein. In jeder Situation habe Gratz seinen Charme, seinen Humor und seine Freundlichkeit bewahrt und von Jahr zu Jahr mehr Freunde gewonnen. Seine außerordentliche Stimme, die ihn zum "Oskar Werner der Politik" werden ließ, habe sicherlich auch zur Fähigkeit von Leopold Gratz beigetragen, die Dinge in einer besonderen Art an die Menschen heranzubringen.

PRÄSIDENTIN PRAMMER: GRATZ HATTE DAS OHR AN DEN BÜRGERN

Mit einem Stadtführer von Wien aus dem Jahr 1929 beschenkte die Zweite Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer, den Jubilar Leopold Gratz. Auch sie unterstrich dessen Fähigkeit, mit den Menschen umzugehen und das Ohr an den BürgerInnen zu haben. Nicht zuletzt deshalb sei er im Jahr 1975 der beliebteste österreichische Politiker gewesen und sei vom TIME-Magazin unter jene 150 Menschen gereiht worden, die weltweit größte Popularität genossen. Vor allem als Wiener Bürgermeister habe er sehr offensiv nach außen gewirkt und mit seiner wienerischen Lebensart Anerkennung gewonnen.

BUNDESPRÄSIDENT FISCHER: EIN GROSSES DANKESCHÖN IM NAMEN DER REPUBLIK

Ein großes Dankeschön im Namen der Republik richtete Bundespräsident Heinz Fischer an Leopold Gratz. Gratz sei ein Mensch, auf den sich Demokratie und Republik verlassen könnten und der viel dazu beigetragen habe, dass die Gesellschaft gesprächsfähig geblieben ist. Fischer erinnerte an die gemeinsamen Jahre im Klub und das Talent von Leopold Gratz, ausgleichend zu wirken. Er habe Zeit seines Lebens an einem hohen Standard an politischer Kultur festgehalten. Bezeichnend sei auch, so der Bundespräsident, dass Leopold Gratz unter Beweis gestellt habe, dass auch in der Spitzenpolitik Freundschaft über einen ganzen Lebensweg hinweg halten könne.

Aufgrund seiner politischen Laufbahn könne man mit Gratz über alle Persönlichkeiten und Phasen der Zweiten Republik sprechen, und für viele sei er ein entscheidender Berater in Fragen der Demokratiepolitik und Verfassung gewesen. Bei seinen Urteilen habe er immer weit über den Tag hinausgeblickt und er sei immer bei seinen Prinzipien geblieben. Auch in einer sehr schwierigen Phase seines politischen Lebens habe er Contenance bewahrt und seine Haltung, wie er sich mit dieser Situation auseinandergesetzt habe, sei imponierend, sagte der Bundespräsident.

Da Leopold Gratz ein Eisenbahnfan ist, erhielt er vom Bundespräsidenten eine Modelleisenbahn.

GRATZ: ALS DEMOKRAT MUSS MAN VON DER ÜBERZEUGUNG GETRAGEN SEIN, DASS DER ANDERE UNTER UMSTÄNDEN RECHT HABEN KÖNNTE

Leopold Gratz zeigte sich "überwältigt", dass so viele alte Freunde der Einladung des Nationalratspräsidenten und der Zweiten Präsidentin des Nationalrates gefolgt sind. In seiner Dankesrede warf er dann einige Schlaglichter auf seine politische Vergangenheit und erinnerte sich an seinen Eintritt als Klubmitarbeiter der SPÖ zu Pfingsten des Jahres 1953. Damals sei das Haus noch mit österreichischer Braunkohle geheizt worden und das Heizhaus sei ihm wie Dantes "Inferno" vorgekommen. Gemeinsam mit der Druckerei, wo noch mit Bleisatz gesetzt wurde, sei das Heizhaus das gesellige Zentrum des Parlaments gewesen. Gratz gab in weiterer Folge zahlreiche Anekdoten über Bruno Pittermann, Bundespräsident Theodor Körner, Außenminister Karl Gruber und den damaligen Klubobmann Adolf Schärf zum besten und unterstrich sein Credo, dass man als Demokrat von der inneren Überzeugung getragen sein müsse, dass der andere unter Umständen Recht haben könnte.

Als Wünsche an die Zukunft appellierte Gratz, den Ausspruch Benjamin Franklins nicht zu vergessen: "Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren". In Anspielung auf den Konvent wandte er sich gegen die immer wieder vorgebrachte Forderung, die Anzahl der Abgeordneten zu reduzieren. Das sei das letzte Mal in der Ersten Republik auf Anordnung des Völkerbundes anlässlich der Sanierung geschehen. Man müsse auch bei der Verfassungsreform auf die tausendjährige Geschichte des Landes Rücksicht nehmen. Das dürfte sich aber durchgesetzt haben, zeigte sich Gratz beruhigt. 

LEOPOLD GRATZ - BIOGRAPHISCHE NOTIZEN

Leopold Gratz wurde 1929 in Wien geboren, wo er auch seine Ausbildung absolvierte. Nach dem Studium trat er zunächst als Vertragsbediensteter in das Landesarbeitsamt Wien ein, ehe er 1953 Angestellter des SPÖ-Parlamentsklubs wurde. Schon zuvor hatte Gratz als Sekretär der Wiener SJ politische Erfahrung gesammelt, die er nun im Klub anwenden konnte. Bald stieg er daher zum Klubsekretär auf und übte dabei jene Funktion aus, die heute von den Klubdirektoren wahrgenommen wird.

1963 entsandte ihn das Land Wien in den Bundesrat, im März 1966 wechselte Gratz in den Nationalrat. Nach dem sozialistischen Wahlsieg 1970 berief Bundeskanzler Kreisky Gratz in seine Alleinregierung, wo dieser von April 1970 bis November 1971 als Unterrichtsminister wirkte. Im Zuge der Regierungsumbildung nach den Neuwahlen 1971 schied Gratz aus der Bundesregierung wieder aus und übernahm den Posten des SP-Klubobmannes, den er bis Juni 1973 innehatte.

In diesem Jahr kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Wiener SPÖ. Bürgermeister Slavik legte seine Ämter zurück, Leopold Gratz folgte ihm nach. Als Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien wurde Gratz auch zum Landesparteivorsitzenden der SPÖ Wien und zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPÖ gewählt. Bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen 1973 verfehlte Gratz nur hauchdünn die Zweidrittelmehrheit im Rathaus, ein Erfolg, den die SPÖ seitdem nie wieder auch nur annähernd erreichen sollte. Gratz war auch bei den Wahlen 1978 und 1983 Spitzenkandidat seiner Partei, wo er jeweils eine solide absolute Stimmen- und Mandatsmehrheit einfahren konnte. In seine Amtszeit als Bürgermeister fallen nicht nur die konsequente Fortsetzung des Wohnbauprogramms, es wurden auch erstmals stärkere Akzente in Richtung Umweltschutz gesetzt. Bemerkenswert sind auch die WIG 74 und der Bau des Konferenzzentrums.

Im September 1984 übersiedelte Gratz vom Rathaus in das Außenamt und übernahm im Kabinett Sinowatz II den Posten des Außenministers. 57-jährig schied Gratz im Juni 1986 im Zuge des Kanzlerwechsels von Sinowatz zu Vranitzky aus der Regierung aus und zog sich eine zeitlang aus der aktiven Politik zurück - wenn er auch weiterhin seine Parteiämter behielt. Im Dezember 1986 kehrte er in den Nationalrat zurück und wurde von den Abgeordneten der XVII. GP zum Präsidenten gewählt. 1988 übergab er den Vorsitz der Wiener SPÖ an seinen langjährigen Freund Hans Mayr.

Zu diesem Zeitpunkt geriet Gratz allerdings auch in den Dunstkreis zweier Skandale, so wurde sein Name im Zusammenhang mit der "Affäre Lucona" genannt, da ihn bekanntermaßen eine Freundschaft mit Udo Proksch verband. Auch hinsichtlich der "Affäre Noricum" wurde er als ehemaliger Außenminister befragt. Wenn ihm auch persönlich nichts vorzuwerfen war, so beschloss Gratz dennoch, das hohe Amt des Präsidenten des Nationalrates nicht einmal annähernd belasten zu lassen und trat daher im Februar 1989 von allen öffentlichen Funktionen zurück. Seitdem genießt der ungebrochen populäre Politiker im Kreis seiner Familie einen aktiven Ruhestand. (Schluss)